Taonga: Der “Takapuna Literary Walk”


Vor einiger Zeit wurde die „i-site“, die Touristeninformation in Takapuna geschlossen. Kein Wunder, denn viel Publikumsverkehr hatte dort seit Langem nicht mehr geherrscht. Besucher, die sich in den Laden verlaufen hatten standen meist konsterniert vor den großen Regalen mit einer Schwemme von kleinen Flyern, die irgendwelche Tourismusangebote bewarben, und zogen bald eine Erfahrung reicher wieder von dannen.

Dabei übersahen wahrscheinlich die meisten ein etwas altmodisch wirkendes Heftchen mit dem vielversprechenden Titel „North Shore Literary Walks„, also – in etwa – „Literarische Spaziergänge an Aucklands North Shore „, die neben dem – offenkundigen – Angebot literarisch inspirierender Spaziertouren auch eine sehr lesbare Einführung in die Literaturgeschichte Neuseelands bietet, plus Auszüge aus den Werken der Schriftsteller deren frühere Wirkungsstätten der Wanderer während des Walks besucht.

Takapuna Literary Walk - Die Karte

Takapuna Literary Walk – Die Karte (reproduced with permission from Auckland Council)

Los geht’s!

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6 Hauraki Road – Keith Sinclair

Keith Sinclairs altes Haus an 6 Hauraki Road existiert allem Anschein nach nicht mehr. Es gibt an der Stelle jetzt mindestens 2 Häuser (6a und 6b), deren Hässlichkeit ein Monument sind für das was in den letzten Jahrzehnten in Neuseeland architektonisch schief gegangen ist. Ich habe mich neulich mit einem australischen Architekturprofessor, Gerard Reinmuth, darüber unterhalten, warum in Neuseeland und Australien die Qualität der Wohngebäude nach dem Zweiten Weltkrieg so drastisch gesunken ist. Bausubstanz vor 1945 ist in beiden Ländern in vielen Fällen besser als das was in den folgenden 50 Jahren produziert wurde. Die plausibelste Erklärung, die ich bis dato gehört hatte, war, dass – zumindest in Australien – nach dem Krieg Mangelwirtschaft herrschte. Weil es nicht genug Ziegel gab, wurde angefangen in „brick veneer“ also hohler Leichtbauweise zu arbeiten, bei der die Ziegel nicht mehr tragen, sondern nur für die Optik außen antapeziert werden, miserable Isoliereigenschaften inbegriffen, die zu einem ungesunden Wohnklima führen. Gerard meint, dass dem nicht so sei. Es wäre die Flut an Migranten aus Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, die einerseits viele Süd- und Osteuropäer in die australische Bauwirtschaft spülte, die lieber einen schnellen Dollar verdienen wollten, als ordentliche Häuser zu bauen, und andererseits zu erhöhter Nachfrage nach billigen Unterkünften führte, die weder gut noch hübsch sein mussten, nur ein Dach über dem Kopf eben. Wie dem auch sei. Als „writer’s bach“, als Literatenhütte, fällt 6 Hauraki heute aus.

6 Hauraki Rd - Keith Sinclair

6 Hauraki Rd – Keith Sinclair

In der Brochüre wird Keith Sinclair übrigens als Poet der „… mudflat school of New Zealand poetry …“ vorgestellt, und natürlich als Historiker und berühmter Verfasser des Klassikers „A History of New Zealand„. Was die „mudflats“ angeht, sind damit die Tidenlandschaften des Hafens von Auckland gemeint, an denen jeden Tag viele zehntausende Pendler in die und aus der Stadt meist achtlos vorbeifahren … nun also, per Bild belegt, sie sind eines Blicks Wert …

Malerische Hauraki mudflats; Rangitoto im Hintergrund

Malerische Hauraki mudflats; Rangitoto im Hintergrund

41 Hauraki Road – Susie Mactier

Weiter geht es in Richtung Takapuna Beach nach Hauraki Road 41, die ein ähnliches Schicksal ereilt hat wie Keith Sinclairs alte Bleibe: abgerissen, und das ehemals große Grundstück mehrfach verbaut. Man beachte den Giebel mit dem Pseudo-Fachwerk. „Tudor style“ nennt sich sowas in Immobilienanzeigen. Übrigens, wen es interessiert, das Hässlichhaus kommt trotzdem locker über die Million, denn „location, location, location“, die Lage ist absolut Schickimicki.

41 Hauraki Rd - Susie Mactier

41 Hauraki Rd – Susie Mactier

41 Hauraki beherbergte zu besseren Zeiten Susie Mactier geb. Seaman, Dichterin und Romanciere. In dem Literary Walk Heft ist ein entzückendes Gedicht abgedruckt, das ihren Abschiedsschmerz vom damals sicher idyllischen North Shore Ausdruck verleiht. Wegen ungeklärtem Copyrightstatus kann ich es nicht wiedergeben, schaut in dem oben verlinkten PDF nach, Seite 14, rechts.

Ansonsten ist Susie Mactier anscheinend im wesentlichen vergessen. Sie hat keinen Wikipedia Eintrag, und es findet sich auch sonst nur wenig über sie im Internet. Schade drum … und vielleicht Anregung für die umtriebigen Mitarbeiter der Takapuna Library etwas bei Wikipedia in Festplatte zu hauen (?)

Mal sehen, zunächst aber über ein Stück Strand zu unserem nächsten Ziel.

Ein Teil des Takapuna Literary Walk führt über den Strand

Ein Teil des Takapuna Literary Walk führt über den Strand

26 Ewen Street – Bruce Mason

Auch 26 Ewen Street ist – sorry, dass das ausgerechnet am Anfang des Artikels passiert 🙂 – wohlhabender Geschmacklosigkeit zum Opfer gefallen, deshalb zeige ich lieber den Kiwi-Klassiker bei Nummer 24. Die Häuser sind primitiv, schlecht isoliert, jaja, usw., aber dennoch nett anzusehen, in ihrer würdigen Bescheidenheit. Später kommen noch mehr davon …

24 Ewen Street - neben Bruce Mason

24 Ewen Street – neben Bruce Mason

Um das Haus in der Ewen Street geht es im Fall Mason bzw. Masons Kindheit weniger, sondern vielmehr um seine unmittelbare Nähe zum Strand von Takapuna und seinen großartigen Blick auf stille pazifische Wasser und den sanften Rücken des verloschenen Vulkans Rangitoto (der neulich aber die Anwohner durch ein spürbares Erdbeben beunruhigte), die Bruce Masons umfangreiches Werk als Publizist, Schriftsteller und Schauspieler beeinflussten.

Im Gegensatz zu Susie Mactier hat Bruce Mason einen bleibenden Platz im Bewusstsein des gemeinen North Shorers gefunden, denn zumindest seinen Namen kennt jedes Kind vom Bruce Mason Centre im Zentrum von Takapuna, in dem viele lokale Veranstaltungen abgehalten werden.

9 Rewiti Avenue – Kevin Ireland

An 9 Rewiti Avenue lernen wir, dass sich Schreiben wahrscheinlich nicht lohnt (den Autor packt Wehmut), und wir statt dessen alle Esoterikscharlatane werden sollten. Wie sonst lassen sich der Z4 in der Einfahrt, und das Ladenschild in Einklang bringen, außer vielleicht dadurch, dass man gerade reichen Besuch empfängt? 🙂

9 Rewiti Ave - Kevin Ireland

9 Rewiti Ave – Kevin Ireland

Ich kann meine Hand nicht dafür ins Feuer legen, dass das Haus das Original ist, aber es sieht doch schwer nach den 1940er Jahren aus, also der Zeit als Kevin Ireland hier seine Kindheit verbrachte. Man beachte den sehr wohltuenden ästhetischen Unterschied zu den unansehnlichen Bauten an den vorangegangenen Stationen.

Kevin weilt sogar noch unter uns, in unmittelbarer Nachbarschaft in Devonport.

14 Esmonde Road – Frank Sargeson

Höhepunkt literarischer Denkwürdigkeit ist sicherlich 14 Esmonde Road, das ehemalige Hauptquartier des Doyen der neuseeländischen Literatur, Frank Sargeson, plus in einem nicht mehr existierenden Nebengebäude der verehrten Janet Frame. Haus und Hof sind leider in einem bedauerlichen Zustand, und sogar um die Plakette zu fotografieren musste ich zuerst Hand an die umwuchernden Büsche legen.

Frank Sargeson Plaque

Frank Sargeson Plaque

Das Haus schockiert fast in seiner spartanischen Einfachheit, hat mich aber auch zutiefst berührt. Ich mit meinen Ansprüchen und Verhätschelungen, während ein so gebildeter Mann keine Kompromisse einging, sondern einfache materielle Verhältnisse in Kauf nahm, um sich den Dingen zu widmen, die ihm wichtig waren. Ich werde dem Haus in näherer Zukunft einen eigenen Artikel widmen.

14 Esmonde Rd - Frank Sargeson und Janet Frame

14 Esmonde Rd – Frank Sargeson und Janet Frame

Übrigens kann man – wie in der Brochüre behauptet – den Schlüssel zu dem Haus nicht mehr in der Takapuna Bibliothek ausleihen. Es kam zu Diebstählen, und deshalb ist es heute nötig einen Termin mit einem Büchereimitarbeiter ausmachen, um das Haus in Begleitung besichtigen zu können: library.northheritage@aucklandcouncil.govt.nz.

24 Tennyson Avenue – R.A.K. Mason und Graeme Lay

In 24 Tennyson sind wir zum Hausfraßyndrom zurückgekehrt. 24 ist heute 24a und b; zwei gesichtslose Wohnkästen, die das Haus von R.A.K Mason einem Sturm-und-Drang Poeten und Kommunisten, dessen Schaffenskraft seine Jugend nicht überdauerte, längst ersetzt haben.

24 Tennyson Ave - RAK Mason

24 Tennyson Ave – RAK Mason

Graeme Lays ehemaliges Anwesen ist dagegen gar nicht mehr zu erahnen, weil der Guide die Hausnummer nicht angibt. Als Ersatz habe ich eine Gruppe von drei schnuckeligen Hobbithütten am Ende der Straße fotografiert. Oh so neuseeländisch … Graeme ist noch heute eine Kenngröße im Populärschreibbetrieb Neuseelands, und war zum Beispiel auch bei der bekannten Zeitschrift „North and South“ tätig, die es anscheinend nur als Printware gibt, also nicht online. Schade.

Tennyson Ave anonym - wahrscheinlich nicht Graeme Lay

Tennyson Ave anonym – wahrscheinlich nicht Graeme Lay

25 Bracken Avenue – Karl Wolfskehl

Die Tour findet ihren topologischen Abschluß bei der leicht heruntergekommenen aber originalen Hütte unseres Darmstädter Landsmanns Karl Wolfskehl, der dort nach 1938 Zuflucht vor nationalsozialistischer Verfolgung fand.

Karl bewegte sich eine Zeit lang in Frank Sargesons Orbit, wurde aber anscheinend zu … hmmm … lästig, u.a. weil er langsam erblindete und damit immer mehr auf Hilfe von außen angewiesen war. Insgesamt scheint es leider ein Exil gewesen zu sein, das von Isolation und Unglück geprägt war.

25 Bracken Ave - Karl Wolfskehl

25 Bracken Ave – Karl Wolfskehl

13 Herbert Road – Allen Curnow

Etwas isoliert von den anderen ehemaligen Literatenhäusern zum guten Ende wieder zu den „mudflats“ des Hafenbeckens von Auckland, an die ehemalige Adresse von Allen Curnow, jetzt so bunkerartig abgeschottet, dass man Hausfriedensbruch begehen müsste um abschätzen zu können, ob man vor einem Original, oder einem Ersatzhaus steht.

Allen spielte anscheinend eine überaus gewichtige Rolle in der poetischen Diskussion seiner Tage, lehrte an der Universität usw. Ein aufgeweckter Charakter, und würdiger Endpunkt einer sehr aufschlussreichen urbanen Wanderung, ganz ganz hervorragend begleitet von der qualitative hochwertigen „North Shore Literary Walks“ Brochüre. Druckt sie am besten aus, übrigens, weil sie inzwischen mehr als zehn Jahre alt ist und nur noch wenige Exemplare in der Bibliothek ausliegen – außer ihr seid voll verkabelt und arbeitet lieber mit der soften PDF-Version.

13 Herbert Rd - Allen Curnow

13 Herbert Rd – Allen Curnow

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Der Takapuna Literary Walk ist nur einer von insgesamt vieren. Der Devonport, Stanley Bay und Castor Bay Walk komplettieren den Umfang der „North Shore Literary Walks“.

Aber Takapuna reicht völlig aus um abschätzen zu können, welch intellektuelle Dichte im jetztigen Nobelvorort einmal herrschte.

Nun, diese Tage sind unwiederbringlich vorbei. Zum einen hat der North Shore nicht mehr den halbwilden Charme der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Viel wurde verbaut, wenig erhalten. Dichter und Denker mussten spätestens den explodierenden Immobilienpreisen und Mieten seit den 1990er Jahren endgültig weichen. Heute tummelt sich hier eher Geldadel, also Bankiers, Anwälte, Berater, reiche Ausländer usw., die mit Schöngeistigem selten viel anfangen können. Es gibt zwar noch Restbestände an normalen Leuten, die ihre Behausungen in der Gegend geerbt haben, aber auch deren Reihen lichten sich allmählich.

Trotzdem ist der Ausflug in die literarische Vergangenheit Takapunas die knappe Stunde Zeit mehr als Wert. Hier herrschte mal viel Kultur, wow, und nebenbei bekommt man einen nützlichen Querschnitt durch die Art und Weise in der Kiwis lebten und leben.

Natürlich kann ich als Takapuna-Lokalpatriot eine gewisse Melancholie nicht unterdrücken. Warum muss man hier heute all diese Geldsäcke ertragen, die sich einen „million-dollar-view“ zulegen, dessen Schönheit aber nicht wirklich sehen, und in jedem Fall nur konsumieren statt irgendetwas zurückzugeben? Und warum präsentierte sich Neuseeland mit seiner stolzen literarischen Tradition bei der Frankfurter Buchmesse vornehmlich als Land in dem gut Wein saufen und Käse fressen ist? Heute leben wahrscheinlich mehr neuseeländische Künstler in Berlin als in Auckland. Naja, um bei Wolfskehl zu bleiben, vielleicht etabliert sich da so etwas wie eine späte Balance, da Deutschland heute von ungehobelten Geldsäcken verfolgten Kiwikünstlern Exil bietet. Sign of times …


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