Opinion: Die Offenheit der Kiwis


Angeregt zu diesem Text hat mich ein Artikel in der ehrwürdigen FAZ vom 30.09.2010 mit Titel „Leben in Neuseeland: Ein Hauch von Karibik mit den Alpen im Hintergrund.“, in dem die Offenheit der Kiwis mit als Grund für die Auswanderung von Deutschen nach Neuseeland genannt wurde. Das machte mich nachdenklich …

Aber zunächst ‚back to basics‘ … Der Begriff besteht offenbar aus zwei Elementen, den Kiwis und der Offenheit.

Zunächst einmal: wer sind die Kiwis? Hier hilft uns die Statistikbehörde des Landes weiter, ‚Statistics New Zealand‘:

Because of the different population growth rates, the projections indicate that the proportion of New Zealand’s population that identifies with a European or Other ethnicity will drop from 77 percent in 2006 to 69 percent in 2026. By comparison, the proportion identifying with Māori ethnicity will increase from 15 percent to 17 percent, with a Pacific ethnicity from 7 to 10 percent, and with an Asian ethnicity from 10 to 16 percent. About 1 percent of New Zealand’s population identified with ethnicities outside of these four broad ethnic groups in 2006. People who identify with more than one ethnicity are included in each ethnic population that they identify with. As a result, the ethnic populations overlap.

Das heißt, dass es den Durchschnittsneuseeländer immer weniger gibt. Das Klischee – wenn überhaupt – an dem wir Deutschen gerne hängen, nämlich des lockeren Naturburschen europäischer Herkunft mit gegerbter Haut und stetem Lächeln sollte – eigentlich – der Akzeptanz einer gelebten multikulturellen Gesellschaft weichen. Uneigentlich ist es natürlich nicht schön, einfache Denkmuster aufgeben zu müssen, im Tausch gegen eine komplexere, globalisierte Welt …

Die geographische Verteilung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen ist sehr uneinheitlich. Die Innenstadt von Auckland wird schon heute von Asiaten – vor allem Koreanern und Chinesen, aber auch Japanern und vielen Menschen indischer Herkunft – geprägt. Das Straßenbild spricht hier Eindeutiges, wie auch die vielen von Asiaten betriebenen Läden, die keine englischsprachigen Ladenschilder mehr haben. Es gibt auch Vororte mit dominanten ethnischen Gruppen, wie Sandringham, in dem viele Inder und Pakistaner leben, oder auch große Teile des North Shore (nördlich der Auckland Harbour Bridge) das eine starke koreanische Bevölkerungkomponente hat.

Auf dem Land unterscheidet sich das Bild vielfach deutlich. Dort finden wir noch immer vornehmlich ‚Europeans and Others‘.

Was heißt das alles nun für die viel gepriesene Offenheit?

Meine Beobachtung ist, dass sich Asiaten mit der Offenheit im allgemeinen eher schwer tun. Sie stammen aus Gesellschaften, die dazu neigen, sich selbst zu genügen (und im Fall der Chinesen traditionell alles nicht-Chinesische erst mal als barbarisch zu betrachten) und ihr Leben in Neuseeland scheint diesen Hang, im großen und ganzen nicht geändert zu haben. Wobei es natürlich immer Ausnahmen gibt, vor allem bei Jüngeren, die in Neuseeland aufgewachsen und sozialisiert sind.

Meine Erfahrungen mit Maori und Pazifikinsulanern sind zugegeben eher vereinzelt. Das hat mit der – schnell einschüchternden – Körperfülle dieser Leute zu tun, wie auch dem „Geschmäckle“. Hier hilft uns das Department of Corrections mit entsprechenden Knaststatistiken weiter:

Of the 6,240 sentenced inmates, approximately 49 percent were identified as Māori, 38 percent as European, 11 percent as Pacific and a further 2 percent as either Asian or “other” ethnicity.

Diese Zahlen spiegeln sich ohne weiteres im Zusammenleben der Bevölkerungsgruppen wider. Maori und Pazifikinsulaner bleiben oft unter sich, in Stadtteilen, in denen diese Gruppen dann die Mehrheit stellen, z.B. Manurewa im Süden von Auckland. Einige Straßenzüge haben dort durchaus den Charakter von Slums. Etwas das verständlicherweise in keiner Touristenbroschüre oder Rosamunde-Pilcher-Episode ein Thema ist. Weniger zu verzeihen ist aber, dass auch deutsche Neuseelandkenner/-blogger hier eher wegsehen. Denn die gravierenden sozialen Probleme, inklusive der hohen Gewaltkriminalitätsrate, die sich u.a. aus der polynesischen Situation ergeben, könnten sich durchaus auf Reise- oder gar Auswanderungspläne auswirken.

Letztlich bleiben uns also noch die mehr oder weniger weißhäutigen Klischeekiwis erhalten, was die Offenheitsdebatte betrifft, und hier kann ich deutlich Entwarnung geben: insgesamt betrachtet, sind die Leute tatsächlich aufgeschlossen und hilfsbereit, vor allem Letzteres sicher ein Überbleibsel aus Pionierzeiten, als gegenseitige Hilfe notwendig war, um das Leben in einem unerschlossenen Land in Gemeinschaft zu meistern.

Gleichzeitig ist vor allem bei der älteren Generation noch immer eine gewisse Reserviertheit, naja, eigentlich schon Ressentiments, gegenüber Deutschen auszumachen. Ich musste mich in den letzten Monaten wundern, wie akribisch in der neuseeländischen Presse Negativthemen aus Deutschland aufgegriffen wurden, seien es (anno 2010) die Abenteuer des Bischofs Mixa, oder die Nazifizierungsbescheinigung für das Auswärtige Amt. Klischees gibt es eben auch in die andere Richtung.

Stark ausgebildet bleibt überraschenderweise auch die Bindung an das alte angelsächsische Mutterland England. „The UK“, und in steigendem Maße auch „the US“ bleiben dominante Leitbilder, in jedweder Hinsicht, kulturell, sozial, ökonomisch. Und die Sache verharrt nicht im Abstrakten. Es fällt auf, dass Schlüsselpositionen in Wirtschaft und Verwaltung noch immer fast monopolhaft mit angelsächsischen Namen besetzt sind. Auch das Fernsehen überträgt fast nur Kost aus dem englischen Sprachraum. Im Gegensatz zum großen Bruder Australien übrigens, der mit SBS (Special Broadcasting Services) einen Fernsehsender betreibt, der vergleichbar mit ARTE/Phoenix auch internationale Indi-Filme und Dokumentarfilme guter Qualität anbietet. Aber nicht verzagen, im Zeitalter des Internet werden Fernsehstationen sowieso immer weniger wichtig – man kann sich ja bald sein eigenes Fernsehprogramm zusammenstellen.

Vom Trivialen zum Realleben … wenn man z.B. in Neuseeland einen Job finden will, oder einen Schritt weiter, gar schon einen hat. Wie sieht es hier mit der Offenheit aus? Nun Ja, kaum ein Deutscher wird hier mit perfekten Englischkenntnissen aufschlagen. Insofern sind gewisse Schwierigkeiten zu erwarten. Und die gibt es auch, allerdings nach meiner Sicht der Dinge sind sie nur mit Sprachfaktoren allein nicht voll erklärbar. Als Daumenregel würde ich es so formulieren: Jobs, in denen in NZ eine erhöhte Nachfrage besteht (IT, gut qualifiziertes Handwerk), stehen dem durchschnittlichen, integrationswilligen Deutschen durchaus offen. Jobs, in denen ein Deutscher genauso oder sogar etwas besser geeignet wäre als ein Kiwi, oder anderer Angelsachse (speziell Brite), sind sehr viel schwerer zu bekommen. Was das obere Ende der Skala anbelangt, also hohe Managerposten, Executives, Direktoren ist die Situation für Deutsche besonders mau. In der Summe lässt sich sagen, dass Einwanderer im wesentlichen als die Truppe für Arbeiten angesehen werden, die Kiwis und ihre Kulturverwandten eher nicht tun mögen. Wer sich damit abfinden kann, dem steht hier nichts im Wege. Und natürlich kann man auch selbstständig ins Geschäftsleben einsteigen aber dazu zu geeigneter Zeit mehr. Pessimismus ist aber trotz allem nicht angesagt. Auch wenn man als Deutscher in NZ Diskriminierung bei der Jobsuche erfahren kann, so ist ihr Ausmaß in keiner Weise mit dem zu vergleichen, womit sich weniger angesehene Einwanderergruppen auseinandersetzen müssen, wie z.B. Inder oder Araber. Denn allen Kriegen und kulturellen Vorbehalten zum Trotz: Deutschland steht noch immer für Qualitätsarbeit, tolle Autos (für die die meisten Kiwis ihr linkes Auge hergeben würden), Lena und Mesut Özil – ist also auch positiv besetzt, und von diesem Nimbus profitieren deutsche Einwanderer.

Zum Schluss: und wie sieht es relativ aus? Ist die sprichwörtliche Offenheit der „Kiwis“ (siehe oben) größer, oder weniger groß als die des „Deutschen“? Ich sage Ja, sie sind offener. Die Menschen sind einfacher gestrickt, weniger kritisch mit sich selbst und anderen, und sie sind im allgemeinen auch umgänglicher, lockerer, und vor allem höflicher als der imaginäre Durchschnittsdeutsche. Dadurch wird das Miteinander weniger kompliziert als in Deutschland, und das ist eine gute Sache, die vielen deutschen Besuchern gefällt (von der sie sich aber selten etwas abschneiden). Was zudem auffällt, wenn man längere Zeit in Neuseeland lebt ist die höhere Toleranz gegenüber ‚Außenseitern‘ mögen es Behinderte sein, und Menschen mit signifikanten physischen oder psychischen Erkrankungen. Es ist, beispielsweise, völlig üblich, dass im Fernsehen Figuren des öffentlichen Lebens auftreten und zu Protokoll geben, an Diabetes oder Depressionen zu leiden, und dazu aufrufen Menschen mit denselben Leiden mit Nachsicht gegenüber zu treten oder auf Hilfsangebote aufmerksam machen. In Deutschland wird in dieser Hinsicht noch viel mehr tabuisiert, verdrängt, ignoriert. Statt dessen scheint als einziges Maß der Toleranz und Weltoffenheit die Anzahl der Ausländer und Schwulen pro Quadratkilometer toleriert zu werden – räusper. Ich finde das ehrlich gesagt ziemlich daneben.

Und nun ganz zum Schluss noch ein paar Worte zur oben angeschnittenen Identitätsfrage. Unser Klischee-Kiwi, der sich als „European or Other“ betrachtet, trottet gerne dem Vorbild größerer angelsächsischer Bruderstaaten hinterher. Das mag bequem sein, der Identitätsstiftung, oder gar dem „nation building“ dient es ganz und gar nicht. Identität wird zu einer zerbrechlichen Masse aus (beinahe kritikloser) Identifikation einerseits, und panischer Abgrenzung andererseits. Insgesamt gibt das kein stimmiges Bild, und es ist im Hintergrund immer eine gewisse Verunsicherung zu spüren. Wer bin ich als Neuseeländer eigentlich? Ein UKler oder USler zweiter oder dritter Klasse? Ein Nachfahre von Maori-Mördern? Ein multikulturell gepolter Gutmensch, der alle Kulturen toll findet und im Wirrwarr nicht mehr richtig weiss, wo er selbst steht? Ich kann mich noch gut an eine Episode der amerikanischen Reality Serie „The Amazing Race Asia“ erinnern, in der der „typische Neuseeländer“ als ein bärtiger älterer Gutsherr daherkam, der auch in England hätte sitzen können. Irgendwie unpassend – aber was wäre passend? Auch die, oder zumindest einige, Kiwis selbst beginnen sich Gedanken zu diesem Thema zu machen. TV One, ein staatlicher Fernsehsender, strahlt Anfang 2011 z.B. die Dokumentarserie „Here to Stay“ aus, die in genau diese Kerbe schlägt. Übrigens heißt eine Folge „The Germans“ … und  einige Episoden können OnDemand per Internet verfolgt werden (www.tvnz.co.nz/video). Spannendes zur Geschichte der Deutschen in Neuseeland gibt es auch in der offiziellen Neuseeland-Enzyklopädie „Te Ara“ der neuseeländischen Regierung: www.teara.govt.nz/en/germans.


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